Die Bratsche - auch Viola genannt- hat mich seit frühester Kindheit besonders fasziniert.
Deshalb habe ich als Zehnjähriger auf meiner Dreiviertelgeige die Saiten um eine Quinte heruntergestimmt und jeden Bratschenpart geübt, den ich finden konnte.
Allzu viele davon gab es damals nicht im väterlichen Notenbestand, und es klang auch nicht besonders nach Bratsche, aber seither kann ich Bratschenschlüssel lesen, und als ich dann endlich mal selber "richtig" Bratsche spielen durfte, war ich- zumindest, was diesen Aspekt anbelangt- vorbereitet.
Natürlich ist es naheliegend, dass die meisten Bratscher von der Geige kommen, da Haltung und Spieltechnik im Grundsatz gleich sind.
Darüber hinaus ist aber die Bratsche eben nicht einfach eine etwas größere und tiefer gestimmte Geige, sondern ein eigenständiges Instrument mit einem besonderen Timbre, das nach meinem Empfinden eher mit dem des Cellos als mit dem der Geige zu vergleichen ist.
Diese Erkenntnis bezieht man als Zuhörer meist aus einer gut gespielten Solopassage, die ihre Wirkung in der Regel auch und gerade bei denen nicht verfehlt, die die Bratsche bis dato nur für ein sprödes Füllinstrument gehalten haben.
Durch ihren eher gedeckten Klang eignet sich die Bratsche aber auch besser als ihre höher bzw. tiefer gestimmten Verwandten dazu, den Streicherklang (im Quartett oder Orchester) quasi aus der Mitte heraus "rund" zu machen.
Das ist im Ensemble normalerweise ihre Hauptaufgabe, und das setzt nicht nur einen guten Klang und eine einwandfreie Spieltechnik voraus, sondern auch ein gewisses Verständnis für die oft scheinbar zusammenhanglos mal hierhin und mal dorthin springende Bratschenstimme im Bezug auf den musikalischen Gesamtkontext.
Die "ganzheitliche" Kenntnis des zu spielenden Werks ist also für den Bratscher womöglich noch existentieller als für die meisten anderen Musiker des Orchesters. (Existentiell ist sie natürlich grundsätzlich für jeden Musiker.)
Es kann hilfreich sein, sich klarzumachen, dass die Bratsche zwar gerne als das Altinstrument der Streicherfamilie bezeichnet wird, meist aber eher eine Art Tenorpart zu spielen hat, oft vergleichbar der Tenorstimme eines traditionellen Werkes für vierstimmigen gemischten Chor.
Aufgrund der Größe und der besonderen Ansprache des Instruments- nicht zu vergessen das höhere Gewicht des Bogens- erfordert das Spiel auf der Bratsche natürlich wesentlich mehr Kraft als das Spiel auf der Geige und dabei trotzdem die gleiche Flexibilität und Durchlässigkeit.
Aber wenn man schon ein gutes Gespür für die Geige entwickelt hat, dann sollte man dieses grundsätzlich auch auf die Bratsche übertragen können, und den Geigern, die sich ernsthaft für den Wechsel entscheiden, gelingt das in der Regel auch.
Wer als Umsteiger allerdings an das Klischee glaubt, die Bratsche sei leichter zu spielen als die Geige, dürfte sein blaues Wunder erleben.
Die Ansprache ist, wie gesagt, wesentlich schwerer als die der Geige, und deswegen das Tempo zu reduzieren kommt in der Regel weder bei den Mitspielern noch beim Publikum besonders gut an.
Gleiches gilt für das Reduzieren der Bogengeschwindigkeit unter Beibehaltung der Intensität. (Erfreut allenfalls Anfänger im Vor- oder Grundschulalter, wenn man es ihnen demonstriert.)
Die andere Variante, nämlich unter Beibehaltung der Bogengeschwindigkeit mit weniger Kraft in die Saite zu gehen, wirkt sich vielleicht etwas weniger fatal aus, aber dann hätten wir eben erst recht keinen richtigen Bratschenklang, und das wäre ein Jammer; manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes.
Problematisch wird es übrigens auch, wenn man denkt, der Bratschenschlüssel sei das große Geheimnis des Bratschenspiels, quasi der Schlüssel dazu.
Das ist etwa so, als würde man denken, man müsste nur das kyrillische Alphabet lernen, und die russische Sprache lernt sich dann irgendwie von selbst. (Ich weiß das, weil ich das selber mal dachte. Seither kann ich immer noch einen großen Teil des russischen Alphabets, aber kein Wort russisch.)
Den Bratschenschlüssel lernt man innerhalb von ein paar Wochen, höchstens Monaten, wenn man sich täglich oder so täglich wie möglich einen Bratschenpart aufs Pult legt und sich durch diesen durcharbeitet.
Wer von der Geige auf die Bratsche wechselt, sollte sich in jedem Fall etwas Zeit für die Umstellung nehmen, auch und gerade wenn es ihm wirklich um den besonderen Klang und- was meines Erachtens viel zu selten zur Sprache kommt- die besondere Aufgabe der Bratsche innerhalb des Ensembles geht.
Dabei sollte man aber auch nicht vergessen, dass die beschriebenen Besonderheiten nur in Details, teilweise auch nur in deren Gewichtung bestehen.
Letztlich gilt für die Bratsche genau dasselbe wie für jedes andere Instrument:
Einfach Musik machen.
Die Bratsche als Soloinstrument
Persönlich hat mich die Bratsche von Anfang an in erster Linie als Ensembleinstrument interessiert. Ihre oben beschriebene Bereicherung des Streicherklangs und ihre gelegentlichen "Wortmeldungen" machen für mich den eigentlichen Reiz dieses Instruments aus.
Mit dem Solorepertoire habe ich mich bisher zu meiner Schande eher wenig beschäftigt.
Mein bisheriger Eindruck:
Es gibt insgesamt mehr an Sololiteratur für Bratsche, als man glauben würde, davon fällt aber vieles eher unter die Kategorie "Hm-ja, ganz nette Musik, und die Bratsche klingt doch schöner, als man immer sagt." (Oder bei der sog. "klassischen Moderne": "Hm-ja, sehr interessante Musik, und dafür eignet sich die Bratsche offensichtlich besonders.")
Auf der anderen Seite sind die wirklich wichtigen klassischen Solowerke für Bratsche zwar durchaus vorhanden, aber eben nicht besonders zahlreich.
Ein anderer Aspekt, den ich nicht unwichtig finde: sowohl die Geige als auch das Cello haben ihre Popularität nicht nur über die große Sololiteratur, sondern auch über die gefälligen "Schmankerln" erlangt, sind unter anderem auch dadurch im wahrsten Sinne des Wortes "salonfähig" geworden. Das war besonders im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert der Fall. Damals spielte die Bratsche aber solistisch so gut wie keine Rolle, während das Cello sich gerade in dieser Zeit zum "vollgültigen" Soloinstrument entwickelte.
William Primrose, der wohl berühmteste Bratscher des mittleren 20. Jahrhunderts, hat den konzertierenden Bratschern davon abgeraten, auf gefällige Arrangements zurückzugreifen, weil dadurch der Eindruck entstehen könnte, die Bratscher hätten sowas nötig, weil sie eben zu wenig eigenes Repertoire hätten.
Vielleicht ist aber genau das der Grund, warum die Bratsche, obwohl sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen gewissen Boom erlebt hat, auch heute noch nicht so recht im Bewusstsein des, sagen wir: musikliebenden Laien angekommen ist.
Vielleicht legen sich die Bratschensolisten zu enge Zügel an, anstatt mal ein wenig zu experimentieren.
Ich frage mich zum Beispiel, ob schon mal jemand auf die Idee gekommen ist, das, wie ich finde, sehr reizvolle Saxophonkonzert von Glazunow auch mal auf der Bratsche zu Gehör zu bringen. Ich würde das, sowohl was den Tonumfang als auch was den Klang anbelangt, für absolut naheliegend halten.
Überhaupt scheint mir- abgesehen von der bereits angesprochenen klanglichen Nähe zum Cello- auch eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Bratschen- und dem Saxophonklang zu liegen- ein Aspekt, den man vielleicht bei "Cross- Over"- Projekten stärker berücksichtigen könnte.
Darius Milhaud ging bei "La création du monde" den umgekehrten Weg. Er besetzte neben einer Handvoll Bläser, Schlagzeug und Klavier auch zwei Geigen, Cello und Kontrabass, aber keine Bratsche. An ihrer Stelle steht in der Partitur das Saxophon- also nicht bei den anderen Bläsern, wie es üblich wäre, sondern zwischen der 2. Geige und dem Cello.
Dem Saxophon kommt in dieser Komposition eine tragende Rolle zu, es integriert sich aber an anderen Stellen auch- quasi in Bratschenmanier- in den Gesamtklang der Streicher.
Die Bratsche ist eben- auch wenn sie so aussieht- keine "Alt- Geige", sondern ein Streichinstrument der Mittellage mit ganz eigenem Klang, dessen Potential außerhalb des Streicherensembles meines Erachtens noch längst nicht voll ausgeschöpft ist.